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Offener Brief zur Vorratsdatenspeicherung an das Europäische Parlament

By EDRi · June 6, 2005

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An die Präsidenten der politischen Gruppen im Europäischen Parlament

Montag, 6. Juni 2005

Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir erlauben uns höflichst Ihre Aufmerksamkeit auf die
Plenarabstimmung (anberaumt für den 7. Juni 2005) über den Bericht
von LIBE-Berichterstatter Alexander Alvaro zur verpflichtenden
Vorratsdatenspeicherung, Nr. 2004/0813(CNS), zu lenken. Wir schreiben
Ihnen im Namen von European Digital Rights, dem Zusammenschluss von
17 Organisationen aus 11 europäischen Ländern, tätig im Bereich der
digitalen Bürgerrechte, Privacy International, einer internationalen
Nicht-Regierungs-Organisation mit Mitgliedern in über 30 Ländern, und
Statewatch, einer Organisation, die mit Korrespondenten in 14
europäischen Ländern die Freiheiten der Bürger überwacht.

Die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten ist eine
Maßnahme, mit der die Überwachungsmöglichkeiten in bisher
beispielloser Weise erweitert werden. Sie wiederruft auf einen Schlag
viele der in den europäischen Menschenrechtsinstrumenten wie den
Datenschutzdirektiven und der Europäischen Menschenrechtskonvention
verankerten Schutzmaßnahmen.

Wie wir gegenüber der Europäischen Kommission im September 2004,
unterstützt von 200 Organisationen der Zivilgesellschaft und des
Privaten Sektors, zum Ausdruck brachten:

– ist Vorratsdatenspeicherung eine äußerst aufdringliche Maßnahme,
die in die Privatsphäre aller Menschen in Europa eingreift.

– ist die Speicherung von persönlichen Daten über jeden eine illegale
Praxis in Hinblick auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, da sie unverhältnismäßig ist.

– kann sich die Sicherheit, die durch Vorratsdatenspeicherung
erreicht werden kann, als Illusion herausstellen, da es
wahrscheinlich ist, dass Verkehrsdaten, die einer Person zugeordnet
werden, tatsächlich den Aktivitäten einer anderen Person zuzuordnen
sind, oder einem Ablauf, der mit den Aktivitäten dieses Benutzers in
keinem Zusammenhang steht.

– sind die Mittel, mit denen diese Politik verfolgt wird, illegitim,
da einige Mitgliedsländer, deren nationalen Parlamente dieser
Maßnahme nicht zustimmten, nun versuchen, diese stattdessen im Namen
der Harmonisierung und der internationalen Zusammenarbeit über die EU
durchzusetzen.

Eine derartige Maßnahme hat mit großer Wahrscheinlichkeit teure
Auswirkungen auf die Bereitstellung von Telekommunikationsprodukten
und -dienstleistungen innerhalb Europas. Dies wird nicht nur zu
Nachteilen für die Europäische Industrie führen sondern
wahrscheinlich auch erhöhte Kosten für die Konsumenten nach sich
ziehen und in einem Sektor, der für die Entwicklung der europäischen
Wirtschaft und Gesellschaft essentiell ist, zu reduziertem Wachstum
führen.

Daher unterstützen wir den Bericht des LIBE-Berichterstatters.
Nirgendwo in Europa wurden Forschungen zum Bedarf und zur
Notwendigkeit der Einrichtung einer derart umfassenden Datensammlung
vorgenommen, die derart sensible Daten über die 450 Millionen
Menschen in Europa enthalten soll. Wir stimmen mit dem
Berichterstatter ebenso darin überein
, dass diese Maßnahme ineffektiv
ist und nicht mit dem Prinzip der grundsätzlichen Unschuldsvermutung
in Einklang steht.

Der Rat der Justiz- und Innenminister hat wiederholt die
Berücksichtigung von Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung mit
geringeren Auswirkungen auf die Privatsphäre, wie die Aufbewahrung
von spezifischen Daten über Personen besonderen Interesses,
abgelehnt. Ganz im Gegensatz dazu erweitert der Rat ständig den
Umfang der Speicherung. Beispielsweise wurde der Zweck der
Datenspeicherung und des Zugriffs auf diese Daten ursprünglich als
Projekt zur “Bekämpfung des Terrorismus” beschrieben, kurz darauf
wurde dies auf “Terrorismus und schwere Verbrechen” ausgeweitet. Es
dauerte nicht lange bis der Rat den Bereich erneut auf “Terrorismus
und Verbrechen” ausweitete, um ihn schlussendlich auf “Straftaten” zu
ändern. Diese Ausweitung des Einsatzbereiches ohne Beweis für die
Wirksamkeit dieser Maßnahme in der Rechtsdurchsetzung wirft schwere
Zweifel daran auf, ob die Maßnahme einer Überprüfung der
Verhältnismäßigkeit jemals Stand halten könnte.

Vermutlich ist aber die Tatsache, dass der Entwurf für die
Rahmenentscheidung jeglicher rechtlicher Basis in der dritten Säule
entbehrt, am gravierendsten. Der Rat der Justiz- und Innenminister
scheint entschlossen zu sein, alle ernstzunehmenden rechtlichen
Bedenken zu den erheblichen Auswirkungen der Entscheidung auf den
Internen Markt zu ignorieren. Wie von der Europäischen Kommission am
22. März 2005 festgestellt, von der JURI- Kommission in ihrer
Mitteilung an LIBE am 31. März 2005 bestätigt, und wie schließlich
vom juristischen Dienst des Rates selbst am 5. April 2005 bestätigt,
kann nur die Europäische Kommission in einer vollständig
demokratischen Vorgangsweise eine derartige Maßnahme vorschlagen, mit
vollen Mitentscheidungsrechten des Parlaments.

Dies hat die Präsidentschaft des Rats der Justiz- und Innenminister
nicht daran gehindert, am 2. Juni 2005 eine triumphierende
Pressemitteilung mit der Aussage zu veröffentlichen, dass

“Alle Mitgliedsstaaten der Notwendigkeit eines Instruments zur
Vorratsdatenspeicherung zustimmen, um bestimmten Arten des
organisierten Verbrechens vorzubeugen und dieses effizient zu
überwachen.”

Die Pressemitteilung merkt darüber hinaus an, dass die Mehrheit der
Minister darin übereinstimmten, die Rahmenentscheidung, basierend auf
den Artikeln 31 und 34 des Titels VI des Vertrags über die
Europäische Union, in der dritten Säule anzusiedeln. Während die
Europäische Kommission bereits angekündigt hat, dass sie einen
Richtlinienentwurf vorlegen wird, weigern sich die Justiz- und
Innenminister, unter völliger Missachtung des Europäischen
Parlaments, der Europäischen Kommission und mehrerer nationaler
Parlamente, die ihren Regierungen ausdrücklich verboten haben,
jeglichen Maßnahmen zur Vorratsdatenspeicherung zuzustimmen, die
Rahmenentscheidung aufzugeben.

Wir möchten Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass derzeit
lediglich zwei der 25 Mitgliedsstaaten verpflichtende
Vorratsdatenspeicherung eingeführt haben, und dies nur für Telefonie:
Italien und Irland (letzteres erst seit Ende Februar 2005). Einige
andere Mitgliedsstaaten (Belgien, Dänemark, Frankreich und Spanien)
haben Rahmengesetze verabschiedet, die eine Einführung der
Vorratsdatenspeicherung ermöglichen. Jedoch hat keines dieser Länder,
hauptsächlich aufgrund des starken Widerstandes seitens der Industrie
und der Zivilgesellschaft, entsprechende Gesetze verabschiedet. Im
Vereinigten Königreich, einem der Länder, die diese Strategie
vorantreiben, hat die Regierung nur ein freiwilliges Speichersystem
angestrebt, das sie im Detail mit der Industrie ausverhandelt hat.

Für eine umfassende Analyse der Legalität, Legitimität, Effektivität
und Proportionalität möchten wir Sie höflichst auf die von Privacy
International und European Digital Rights erstellte umfassende
rechtliche und technologische Analyse verweisen. [1] Wir empfehlen
weiters die Analyse von Statewatch zu den Rechtsansichten der
Kommission und des Rates [2] und die Stellungnahme 9/2004 des
Komitees der Europäischen Datenschutzbeauftragten zur Illegalität der
Speicherung gemäß Artikel 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention. [3]

Als Bürgerrechtsorganisationen mit Erfahrung und Expertise im Bereich
Technologiepolitik sind wir sehr besorgt über die Fehleinschätzung
der Konsequenzen dieses Politikvorschlages. Daher hoffen wir, dass
Sie den Bericht von Alexander Alvaro als ersten Schritt zu einer
ernsthaften demokratische Debatte annehmen.

Hochachtungsvoll

Sjoera Nas
European Digital Rights
www.edri.org

Gus Hosein
Privacy International
www.privacyinternational.org

Tony Bunyan
Statewatch
www.statewatch.org

Und die Mitglieder von European Digital Rights in alphabetischer
Reihenfolge:

* Association Electronique Libre (AEL) – Belgien
* Bits of Freedom – Niederlande
* Campaign for Digital Rights (CDR) – Vereinigtes Königreich
* Chaos Computer Club (CCC e.V.) – Deutschland
* CPSR-ES – Spanien
* Digital Rights – Dänemark
* Electronic Frontier Finland (EFFI) – Finnland
* Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG e.V.) – Deutschland
* Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF e.V.) – Deutschland
* Foundation for Information Policy Research (FIPR) – Vereinigtes Königreich
* GreenNet – Vereinigtes Königreich
* Internet Society Bulgaria – Bulgarien
* Imaginons un Réseau Internet Solidaire (IRIS) – Frankreich
* Netzwerk Neue Medien (NNM e.V.) – Deutschland
* quintessenz – Österreich
* Swiss Internet User Group (SIUG) – Schweiz
* VIBE!AT – Österreich

Literaturhinweise

1. “Invasive, Illusory, Illegal, and Illegitimate: Privacy International and EDRi Response to the Consultation on a Framework Decision on Data Retention”, übermittelt an die Europäische Kommission GD JHA und Informationsgesellschaft, 15. September 2004, abrufbar unter
http://www.privacyinternational.org/issues/terrorism/rpt/responsetoretention.html

2. “EU: Data Retention proposal partly illegal, say Council and Commission lawyers”, Statewatch, abrufbar unter
http://www.statewatch.org/news/2005/apr/02eu-data-retention.htm

3. “Stellungnahme 9/2004 zum Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Vorratsspeicherung von Daten, die in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet und aufbewahrt werden, oder von Daten, die in öffentlichen Kommunikationsnetzen vorhanden sind, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus.”, ARTIKEL-29-Datenschutzgruppe, 11885/04/DE/WP99, abrufbar unter
http://europa.eu.int/comm/justice_home/fsj/privacy/docs/wpdocs/2004/wp99_de.pdf